
Oberbürgermeister von Tübingen
Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann betonte am 29.04.2020 in einer Regierungserklärung zur Corona-Pandemie „Der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung stehen für mich an oberster Stelle.“ Am Tag davor hatte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eine Lockerung der Corona-Maßnahmen gefordert und dabei bewusst provozierende Vorschläge gemacht: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, sagte der Grünen-Politiker im Sat.1‑Frühstücksfernsehen. Es müsse unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Junge und Ältere geben.
Uns Bündnisgrünen, von denen Boris Palmer zum zweiten Mal zum Oberbürgermeister nominiert worden war, schadet diese provokante Äußerung von Boris Palmer enorm. Sein Kollege, der Oberbürgermeister von Stuttgart Fritz Kuhn bezeichnet Palmers Äußerung als „sozialdarwinistisch“ und „inhuman“.
Die Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock distanzierte sich klar von Palmers Äußerung. „Unsere Gesellschaft zeichnet aus, dass alle ein gleiches Recht auf medizinische Betreuung haben. Unsere Verfassung ist da mehr als klar.“
Folgende Sätze im Grundgesetz sind dafür maßgeblich: Artikel 2 (2) „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Artikel 3 (1) „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
Die baden-württembergischen Grünen-Vorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand teilten mit, Palmer spreche nicht für die Grünen. „Mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen beteiligt er sich an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte – das ist mit unseren politischen Werten und unserem Verständnis von politischer Verantwortung nicht vereinbar.“ Auch der Sprecher der Baden-Württembergischen Grünen Alten und Bundessprecherkollege Gerd Baumer, versuchte Boris Palmer zur Einsicht zu bewegen.
Ich füge hinzu: Der irrwitzige Vorschlag von Boris Palmer widerspricht allgemeinen und gesundheitspolitischen Grundsätzen grüner Politik. Mit der Bürgerversicherung fordern wir schon seit langem den gleichen Zugang zu Leistungen im Gesundheitswesen und der Pflege, unabhängig davon ob jemand gesetzlich oder privat versichert ist, und unabhängig vom Alter und Geschlecht.
Am Ende kann Boris Palmer nicht mal belegen, dass sein Vorschlag zielführend ist, denn diejenigen, die andere Menschen anstecken, sind überwiegend der jüngere, aktivere Teil der Bevölkerung. Dies ist inzwischen durch verschiedenste Studien sehr deutlich belegt. Epidemiologen weisen auf schwere Verlaufsformen, die auch bei jüngeren Infizierten vorkommen, wenngleich deutlich seltener. Der erste, bekannt gewordene an Covid-19 erkrankte Berliner war ein junger Mann von 22 Jahren. Auch er musste auf einer Intensivstation längere Zeit behandelt werden.
Entscheidend ist der Wille der Betroffenen
Eine völlig andere Debatte ist die Frage, ob Hochbetagte mit erheblichen Vorerkrankungen über invasive Formen der Beatmung mit erheblichen Spätfolgen zuvor ausreichend aufgeklärt wurden, und auch dann noch damit einverstanden sind. Um hier Entscheidungen zu treffen ist differenzierte (auch palliativmedizinische) Aufklärung und die Einbeziehung von nahestehenden Vertrauenspersonen sehr wichtig.
Der Palliativmediziner Matthias Thöns verweist in einem Interview mit dem Deutschlandfunk auf eine Untersuchung, nach der nur bei vier Prozent der Beatmeten eine Willensermittlung stattfand. Siehe: www.deutschlandfunk.de
Es kann durchaus legitim sein auch in Corona-Zeiten über humanes, würdevolles Sterben und die positiven Seiten der Palliativversorgung vorausschauend nachzudenken. Natürlich achtet auch die Palliativmedizin darauf, dass die Patient*innen nicht ersticken. Auch hier geht es darum, Atemnot zu lindern, aber die Behandlung muss leidloser gestaltet werden. Insbesondere gehört zur Palliativversorgung auch die psychosoziale und spirituelle Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen. Außer in Fachgesellschaften wird seit der Corona-Pandemie über diese Option leider so gut wie nicht öffentlich diskutiert. Dazu hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin am 08.04.2020 gemeinsam mit anderen Fachgruppen eine wichtige Stellungnahme mit dem Titel: „Empfehlungen zur Unterstützung von belasteten, schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen in der Corona Pandemie aus palliativmedizinischer Perspektive“ veröffentlicht. Siehe PDF-Dokument von: www.dgpalliativmedizin.de
Boris Palmer nimmt aber diese Abwägung genau nicht vor. Vielmehr hat er seine Forderung ökonomisch begründet: Man soll nicht mehr so viel Geld ausgeben für Menschen mit einer ohnehin geringen Lebenserwartung. Das ist in verschiedener Richtung absurd. Palmer will den Betroffenen das Grundrecht auf Leben verwehren; dies ist ein Bruch mit dem Grundgesetz. Er rechnet Leben gegen andere Ziele auf, hier gegen eine funktionierende Ökonomie und die Folgen eines länger währenden Shut Downs.
Antonia Schwarz, Sprecherin der Grünen Alten Bundesverband
Krankenschwester und Medizinsoziologin
Begriffserläuterungen:
Die Epidemiologie befasst sich heute mit allen Arten von Krankheiten und mit den Faktoren, die Gesundheit und Krankheit beeinflussen, und nicht mehr nur mit Epidemien als zeitlich und räumlich begrenzte Zunahme des Vorkommens vor allem von Infektionskrankheiten.
Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung, bei Erkrankungen, die nicht mehr geheilt werden können. Die Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen, psychischer, sozialer und spiritueller Art treten in den Vordergrund der Behandlung. Ziel in der Palliativmedizin ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität bis zum Tod.
Shut Down im Kontext der Corona-Pandemie: Ausgangssperre für weite Teile der Bevölkerung; Kontaktverbote; Abstandsgebot von mindestens 1,5 m; Kontaktverbote für die Bewohner*innen von Pflegeheimen; Angehörige dürfen die Bewohner*innen nicht mehr besuchen; staatliche Vorgaben zur Nutzung von Schutzmasken und ‑Kleidung; weitgehende Stilllegung von großen Teilen des gesellschaftlichen Lebens; Schließung von Gaststätten und Hotels; Reisebeschränkungen und vieles mehr.