Lernen im Alter

Soll ›lebens­lan­ges Ler­nen‹ auch im Alter gel­ten, muss des­sen Sinn neu bestimmt wer­den, denn eigent­lich hat man nach der Leh­re, spä­tes­tens aber nach dem Ein­tritt in den Ruhe­stand, aus­ge­lernt und lebt dann bis zum Lebens­en­de. Was ist nun in des­sen Nähe das Beson­de­re? Und wie könn­te man das nennen?

Auf der Suche nach einem neuen Wort

Für das neue Wort wer­den zuerst drei Sinn­ho­ri­zon­te auf­ge­zo­gen: ein päd­ago­gi­scher, ein gesell­schaft­li­cher und ein individueller:

  1. Die Montesso­ri­päd­ago­gik ver­wen­det ›Offe­ne Form‹ und ›Frei­ar­beit‹ im Unter­richt. Ihr Grund­ge­dan­ke ist: ›Hilf mir, es selbst zu tun.‹ Im Mit­tel­punkt steht das ein­zel­ne Kind, es lernt nach sei­ner eige­nen Art, nach sei­nem eige­nen Rhyth­mus. Dadurch gewinnt es Selbst­ver­trau­en, Selbst­stän­dig­keit und kann so das prak­ti­sche Leben bes­ser gestal­ten. Der Leh­ren­de muss sich selbst auch als Ler­nen­der begrei­fen. Kind und Leh­rer wer­den so zu zwei Ler­nen­den. Die Zeit­span­ne der Erzie­hung reicht vom Klein­kind­al­ter bis in das jun­ge Erwach­sen­sein.
    In Bre­men gibt es eine Kin­der­schu­le, eine selbst­or­ga­ni­sier­te Schu­le, die von Kin­dern, Eltern und Mit­ar­bei­te­rIn­nen soli­da­risch und gemein­sam gestal­tet wird. Säu­len des Grund­schul-Kon­zep­tes sind selbst­ge­stal­te­tes, inter­es­se­ge­leite­tes Leben in ›jahr­gangs­über­grei­fen­den Lern­grup­pen‹, die Päd­ago­gik der Viel­falt und die völ­li­ge Ver­schmel­zung von Kin­der­gar­ten und Schu­le (Schul­pro­gramm Okto­ber 2010, S. 10).
  2. In der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on war die Paro­le: Liber­té, Ega­li­té, Fra­ter­ni­té. Es ging um die Befrei­ung vom abso­lu­tis­ti­schen Staat, um die bür­ger­li­chen Frei­heits­rech­te und um die Gleich­heit aller Men­schen. Die Pari­ser schrie­ben 1793 an ihre Häu­ser­fas­sa­den: ›Ein­heit, Unteil­bar­keit der Repu­blik, Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit oder der Tod‹. Das Lied ›Die Gedan­ken sind frei‹ erschien 1780 zum ers­ten Mal. „Immer wie­der war das Lied in Zei­ten poli­ti­scher Unter­drü­ckung oder Gefähr­dung Aus­druck für die Sehn­sucht nach Frei­heit und Unab­hän­gig­keit“ (nach Wiki­pe­dia).
  3. Im Mär­chen ›Das eigen­sin­ni­ge Kind‹, tut das Kind nicht, was die Mut­ter sagt. Gott straft es dafür mit dem Tod. Im Grab streckt es immer wie­der ein Ärm­chen her­vor, bis die Mut­ter dar­auf ein­schlägt. Das Kind zieht es zurück und fin­det nun sei­nen Frie­den. Dass der »Eigen-Sinn, eige­ner Sinn, Eigen­tum an den fünf Sin­nen, dadurch auch Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit gegen­über allem, was in der Umwelt pas­siert«, so hart bestraft wird, »ist die mora­li­sche Ant­wort auf eine vor­aus­ge­gan­ge­ne kol­lek­ti­ve Ent­eig­nung der Sin­ne, die nicht geglückt ist«. Auch Anti­go­ne in der Tra­gö­die von Sopho­kles ver­hält sich eigen­sin­nig. Kre­on, der König von The­ben ver­bie­tet ihr, ihren Bru­der zu beer­di­gen. Da Anti­go­ne den Geset­zen ihrer Fami­lie gehor­chen will, die eine Bestat­tung for­dern, straft sie der König mit dem Tod (nach Negt/Kluge Geschich­te und Eigen­sinn). Nach Hegel zeigt das einen Kon­flikt zwei­er Sitt­lich­kei­ten: »In der Polis (The­ben) nimmt die Sitt­lich­keit zwei neben­ein­an­der bestehen­de For­men an, als Sitt­lich­keit von Fami­lie und Ver­wandt­schaft, ver­kör­pert durch Anti­go­ne, und als Sitt­lich­keit des Stadt­staa­tes, dar­ge­stellt durch Kre­on« (nach Wiki­pe­dia).

Sel­ber tun, frei arbei­ten, selbst orga­ni­sie­ren und so das Leben leben, steht auf dem ers­ten Hori­zont, Frei­sein von Unter­drü­ckung, Gleich­sein sowie Gedan­ken frei den­ken kön­nen, auf dem zwei­ten, und auf dem drit­ten steht, dass ich es bin, dass mei­ne Sin­ne ent­schei­den und ich mich auch der Welt wider­set­zen kann. Die Über­tra­gung die­ser Kon­zep­te auf das Alter ist ein­fach: Das Montesso­ri-Kon­zept lie­ße sich indi­vi­du­ell über das frü­he Erwach­sen­sein hin­aus bis ins Alter hin­ein ver­län­gern, die Ver­tei­di­gung der Frei­heit, der Kampf gegen Will­kür, gilt für alle Men­schen, also auch für Alte und die eigen­sin­ni­ge, selbst­be­stimm­te indi­vi­du­el­le Hand­lungs­wei­se eben­so. Der Begriff ›Auto­no­mie‹ umfasst das alles sehr gut. Er muss nur noch mit dem Begriff ›Alter‹ ver­bun­den werden.

Die Autonomie des Alters oder die Altersautonomie

Was ist das Beson­de­re an ihr gegen­über der Montesso­ri-Päd­ago­gik, dem Frei­heits­wil­len aller Unter­drück­ten die­ser Erde und aller frei agie­ren­den Indi­vi­du­en? Oder anders gefragt: Wie schei­nen die Frei­heit der Kind­heit, der Drang nach Befrei­ung der Völ­ker und die eigen­sin­ni­gen Indi­vi­du­al­ent­schei­dun­gen gegen die sitt­li­chen Geset­ze im Auto­no­mie­be­griff des Alters wie­der auf? Dazu bedarf es einer Klä­rung der bei­den Begriffsteile:

In ›Über das Alter‹ (De senec­tu­te, 44 v. Chr.) hat Cice­ro vier Eigen­schaf­ten herausgestellt:

  1. Die Kräf­te schwin­den (man kann nicht mehr das Ruder auf der Galee­re bedie­nen wohl aber das Steu­er­rad führen).
  2. Die kör­per­li­chen Gebre­chen neh­men zu.
  3. Die Lust auf leib­li­che Genüs­se schwindet.
  4. Der Tod ist nahe.

Das wird so mit klei­ne­ren Abwei­chun­gen durch die gesam­te Alten-Lite­ra­tur bis heu­te durch­ge­zo­gen. Es sind gewis­ser­ma­ßen die Qua­li­tä­ten des Alters. Hin­zu kommt der Zeit­fak­tor. Man hat sich ange­wöhnt, den bis­her nicht genau dif­fe­ren­zier­ten 3. Lebens­ab­schnitt nach Alters­ko­hor­ten – Jahr­gangs­grup­pen mit ähn­li­chen Pro­fi­len – zu unter­tei­len: Die 1. Kohor­te umfasst die 65–75jährigen, die ›jun­gen Alten‹, die zwei­te die 75–85jährigen, die ›mitt­le­ren Alten‹ und die drit­te, 85jährige bis zum Lebens­en­de, die ›alten Alten‹. Für jede die­ser drei Kohor­ten müs­sen die vier Qua­li­tä­ten jeweils ein­zeln berech­net wer­den. Zur Zeit ist die 1. Kohor­te die wich­tigs­te. In ihr ver­sam­meln sich die meis­ten Akti­ven des bür­ger­li­chen Enga­ge­ments. Dazu gehö­ren auch die 68er, damals wie heu­te nur eine klei­ne radi­ka­le Minderheit.

Auto­no­mie‹ heißt Eigen­ge­setz­lich­keit. Zum Hori­zont die­ses Begriffs gehört auch der Kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv von Kant: »Hand­le nur nach der­je­ni­gen Maxi­me, durch die du zugleich wol­len kannst, dass sie ein all­ge­mei­nes Gesetz wer­de.« (nach Wiki­pe­dia). Die­se Über­ein­stim­mung zwi­schen dem indi­vi­du­el­len Han­deln und der Staats­rai­son hält der Rea­li­tät sel­ten stand. Hin­zu kommt, dass sie mit der Idee des eigen­sin­ni­gen Kin­des kol­li­diert, wo die eige­nen Geset­ze oft unter Ein­satz des Lebens gegen die gesell­schaft­li­chen oder sitt­li­chen Geset­ze durch­ge­setzt werden.

So bekommt der Begriff ›Alters­au­to­no­mie‹ die fol­gen­de beson­de­re Bedeu­tung: Eine je nach Alters­ko­hor­te ver­schie­de­ne Gewich­tung der vier Qua­li­tä­ten und eine je nach kon­kre­ter indi­vi­du­el­ler Hand­lung ver­schie­de­ne Kol­li­si­on zwi­schen dem Eigen­sinn der Per­son und dem der Gesellschaft.

Damit wird die Alters­au­to­no­mie zu einem Pro­zess, zu einer Begeg­nung, immer ein­zig, immer anders, geschei­tert oder nicht, wach­send wie ein Rhi­zom, das macht was es will, denn es folgt sei­ner eige­nen Gesetz­lich­keit. Hin­zu kommt:

  1. Das Kon­zept, Leh­ren­de und Ler­nen­de als Bei­de ler­nend zu behan­deln, ist noch sehr unge­wöhn­lich und muss daher erst ein­mal ein­ge­übt werden.
  2. Es kann pas­sie­ren, dass die Akteu­re die ›Hil­fe, damit ich es sel­ber kann‹ ent­we­der gar nicht anneh­men , weil sie in der Hand­lung sel­ber alles gelernt haben, was die Erfah­rung bie­tet, oder die Hil­fe selbst nicht nütz­lich ist, denn ihr fehlt die Kennt­nis der Praxis.

Lebens­lan­ges Ler­nen‹ im Alter wan­delt sich so zum ›Lebens­lan­gen Leben‹ im Alter mit dem Risi­ko des Schei­terns und des immer wie­der neu Begin­nens. So ver­stan­den, kann die Meta­pher ›Lebens­lan­ges Ler­nen‹ über­le­ben, denn sie meint auch das.

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