Deal der Generationen

Sie ist eine Instanz: Ex-Bischöfin und Asphalt-Magazin-Heraus­geberin Margot Käßmann. Vierteljährlich bespricht die Redaktion mit ihr die Themen der Zeit. Diesmal: Corona, Würde, Kinder­leben und was man erwarten kann.

Lie­be Mar­got, die Coro­na-Kri­se domi­niert alles. Doch die Einig­keit schwin­det. Wir erle­ben gera­de ein sozi­al­dar­wi­nis­ti­sches Auf­be­geh­ren der Unge­fähr­de­ten. Sind wir auf lan­ge Sicht gemein­sam untaug­lich als soli­da­ri­sche Gesellschaft?

Volker Macke
FSp. | GRÜNE ALTE Vol­ker Macke
(Chef­re­dak­teur des Asphalt-Magazins)

Nein, ich fin­de schon, dass in den ver­gan­ge­nen Mona­ten viel Soli­da­ri­tät da war, mehr als ich mir hät­te vor­stel­len kön­nen. Aber dass Belas­tungs­gren­zen erreicht sind, ist offen­sicht­lich. Sei es in den Pfle­ge­hei­men mit ihrer strik­ten Iso­la­ti­ons­vor­ga­be oder im Kita- und Schul­be­reich. Und natür­lich sind Men­schen am Exis­tenz­rand. Jeder vier­te hat Angst, bald sei­ne Mie­te nicht mehr zah­len zu kön­nen. Des­halb ist es in einer Demo­kra­tie Teil der Soli­da­ri­tät, Fra­gen zu stel­len, ob die Maß­nah­men ange­mes­sen sind.

Wenn man sich die Pla­ka­te auf den so genann­ten Hygie­ne-Demos ansieht, dann sind da vor allem Leu­te, die Ant­wor­ten haben und nicht Fra­gen stel­len. Teils ganz eigen­tüm­li­che Antworten.

Natür­lich sehe ich auch die­se kru­den Ver­schwö­rungs­theo­rien. Ob wir denn nicht begrif­fen hät­ten, dass eine neue Welt­ord­nung droht, dass Bill Gates uns was implan­tie­ren wol­le, dass Ange­la Mer­kel von Adolf Hit­ler abstam­me, die­ses alles gemischt mit Anti­se­mi­tis­mus. Natür­lich gilt das Demons­tra­ti­ons­recht in Deutsch­land. Aber jeder, der dahin­geht, muss gucken, mit wem er da marschiert.

Wie tren­nen wir das?

Gute Fra­ge. Man­che schimp­fen, sie sei­en kei­ne Anti­se­mi­ten, sie stün­den da für ihre Frei­heits­rech­te. Da müs­sen wir ant­wor­ten: Guck dich um, neben wem du stehst und was auf der Büh­ne geäu­ßert wird. Wenn neben mir jemand skan­diert, dass Welt­ju­den­tum sei an allem schuld, dann muss ich den anspre­chen und in die argu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung gehen. Vor Ort. Das erwar­te ich.

Und wie soll­te die Öffent­lich­keit mit Men­schen umge­hen, die behaup­ten, Deutsch­land sei auf­grund sei­ner Coro­na-Maß­nah­men ein NS-Staat? 

Wir soll­ten die nicht ein­fach als Spin­ner abtun und ste­hen las­sen. Irgend­wann sind das dann zu vie­le Spin­ner. Das wäre beängs­ti­gend für die Demo­kra­tie. Wir müs­sen argu­men­tie­ren, was ande­res geht nicht. Wer sich nicht imp­fen las­sen will, das müs­sen wir sagen, muss sich nicht imp­fen las­sen, wenn er nicht will. Doch noch gibt es den Impf­stoff nicht. Wer also sei­ne Frei­heit über­deh­nen will und damit ande­re gefähr­det, muss argu­men­ta­tiv gestellt werden. 

FSp. | GRÜNE ALTE Mar­got Käß­mann
Plötz­lich emp­fin­den sich die Leu­te nicht mehr als Herr ihres eige­nen Lebens.

Eine Tele­fon­seel­sor­ge­rin erzähl­te mir jüngst, den Men­schen feh­le viel­leicht ein­fach die Krisenerfahrung.

Gut mög­lich. Schon ich habe Krieg, Hun­ger und Ver­trei­bung nicht mehr erlebt, ken­ne es aber zumin­dest noch von haut­na­hen Schil­de­run­gen mei­ner Eltern. Jün­ge­re Leu­te haben ihr Leben bis­her als rela­tiv sicher erlebt. Sie mein­ten, ihr Leben im Griff zu haben, es gin­ge immer höher, schnel­ler, wei­ter, der Urlaub ist geplant. Und auf ein­mal wer­den sie ein­ge­schränkt, der Arbeits­platz ist nicht mehr sicher, der Lebens­stil aus Clubs, Bun­des­li­ga, Fit­ness-Stu­dio infra­ge gestellt. Ich den­ke, dass das eine ech­te Erschüt­te­rung sein kann, die auch ein Ohn­machts­ge­fühl aus­löst. Plötz­lich emp­fin­den sie sich nicht mehr als Herr ihres eige­nen Lebens. 

Was fehlt, damit man die­ses sehr tem­po­rä­re Ande­re als so bedroh­lich emp­fin­det? Dank­bar­keit? Demut?

Ja, gewiss. Demut bedeu­tet: Ich bin nicht die Mache­rin mei­nes Lebens, nicht die­je­ni­ge, die alles im Griff hat. Wenn es jetzt so viel Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät gibt, dann ist das viel­leicht auch ein Zei­chen dafür, dass wir den All­tag frü­her gar nicht wert­ge­schätzt haben. Jeden Tag zumin­dest optio­nal alles ein­kau­fen zu kön­nen, jeden Tag frei bewe­gen, wohin du willst, das alles in einer der reichs­ten Natio­nen der Welt. Das wur­de für selbst­ver­ständ­lich genom­men, ist es aber nicht. Zuerst haben die Bil­der der Ster­ben­den aus Ber­ga­mo und die Kühl­las­ter in New York einen Schock aus­ge­löst. Doch mit der Zeit wur­den die Bil­der weni­ger und die Belas­tun­gen grö­ßer. Men­schen brau­chen immer eine Per­spek­ti­ve, Hoff­nungs­zie­le. Daher kippt das jetzt.

Ist das das Fun­da­ment, auf dem Bun­des­tags­prä­si­dent Schäub­le steht, wenn er sagt, es gebe kei­nen Vor­rang des Arti­kels 2, Satz 2 als den Staat bin­den­des Recht vor ande­ren Grund­ge­setz-Arti­keln? Also, was ist mein Recht auf mög­lichst umfas­sen­de kör­per­li­che Unver­sehrt­heit wert?

Der ers­te Arti­kel besagt, die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar. Wir dür­fen und müs­sen fra­gen, was pas­siert, wenn der Staat teils restrik­tiv Iso­la­ti­on hin­ter ver­schlos­se­nen Türen bestimmt. Wenn die Fäl­le von gemel­de­ten Schüt­tel­trau­ma­ta bei Klein­kin­dern stei­gen, dann wird die Wür­de der Kin­der ver­letzt hin­ter die­sen Türen. Und die Wür­de wird auch ver­letzt, wenn ich nicht zu mei­ner ster­ben­den Mut­ter ins Alten­heim darf. Da hat Wolf­gang Schäub­le recht, der Wür­de­schutz darf nicht zuguns­ten eines Lebens­schut­zes geop­fert wer­den. In die­sem Jahr wer­den laut Robert-Koch-Insti­tut sta­tis­tisch 520.000 Men­schen eine Krebs­dia­gno­se bekom­men. Davor kann uns der Staat auch nicht schüt­zen, nie­mand wür­de das erwar­ten. Doch jetzt wur­de wegen Covid-19 eine sol­che Iso­la­ti­on ver­hängt. Ein­sam­keit, die so bru­tal ist, dass zeit­wei­se gar kein Kon­takt mög­lich ist, die führt zu schwe­ren Depres­sio­nen. Das greift die Wür­de mas­siv an.

Kön­nen wir uns auf mehr Sui­zi­de ein­stel­len, wenn es im Herbst und Win­ter zu einer zwei­ten Infek­ti­ons­wel­le kom­men wird?

Kann gut sein, dass die Zahl der Sui­zi­de stei­gen wird. Aber ins­ge­samt wer­den die Fol­gen der Iso­la­ti­on und der Angst erst mit der Zeit offen­bar wer­den. Ich fürch­te, sie wer­den gra­vie­ren­der sein, als bis­her ange­nom­men. Eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses hat mir erzählt, sie berei­ten sich auf eine gan­ze Wel­le neu­er Fäl­le vor.

Nur weil man den Män­nern bis­her und nor­ma­ler­wei­se gestat­tet hat raus zu gehen, über­le­ben ihre Frau­en und Kinder?

Die Kri­se zeigt uns aktu­ell ein­fach, wo die Schwächs­ten der Gesell­schaft sind. Die Kri­se ist ein Brenn­glas. Es erschreckt mich, wie vie­le Kin­der geschla­gen und miss­han­delt wer­den, wie vie­le Frau­en pro Jahr von ihren Part­nern getö­tet wer­den. Nie­mand in der Poli­tik hat die sozia­len und psy­chi­schen Fol­gen von Anfang an bedacht, weil nie­mand bis­her eine sol­che Kri­se erlebt hat. Aber tat­säch­lich zeigt sie uns vie­le Schwach­stel­len, ja auch die gan­ze Fra­gi­li­tät der Gesell­schaft. Und dann ver­ges­sen wir hier in Deutsch­land in der gan­zen Öff­nungs­dis­kus­si­on auch noch die Aller­schwächt­sen, die klei­nen Kinder.

In Däne­mark wer­den die Kitas viel frü­her wie­der aufgemacht.

Und hier in Han­no­ver-Land heißt es, dass viel­leicht nach den Som­mer­fe­ri­en wie­der auf­ge­macht wird. Das muss man sich mal vor­stel­len. Gera­de die Kita- und Grund­schul­kin­der sind doch die, die am meis­ten auf den Kon­takt mit ihres­glei­chen und den Frei­raum, das Ver­trau­en in Kita und Schu­le ange­wie­sen sind. Die älte­ren Kin­der, die Jugend­li­chen, die ken­nen sich not­falls aus mit elek­tro­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­teln, die Kita­kin­der aber wer­den über­se­hen. Also bit­te, ver­kürzt die Som­mer­fe­ri­en nach die­sen acht Wochen Shut­down jetzt auf drei Wochen, seid krea­tiv in den Minis­te­ri­en und Schu­len und sorgt dafür, dass die Kin­der end­lich wie­der ihr Kin­der­le­ben haben.

Ist die Unbe­schwert­heit der Jün­ge­ren wich­ti­ger als das Leben der Alten?

Wenn ich wüss­te, dass die Klei­nen und Jün­ge­ren wie­der raus­kön­nen, wenn wir, die über Sech­zig­jäh­ri­gen, die Risi­ko­grup­pen, zuhau­se blie­ben, wenn das der Deal wäre, dann wür­de ich mich dar­auf ein­las­sen. Das kann mei­nes Erach­tens von uns erwar­tet werden.

Der eins­ti­ge Ober­grü­ne Chris­ti­an Strö­be­le hat bereits ange­kün­digt, er wür­de sofort kla­gen, wenn er ein­ge­sperrt wür­de, damit die Jün­ge­ren frü­her ihr bis­he­ri­ges Leben zurückbekämen.

Das fin­de ich ziem­lich unso­li­da­risch von ihm. So ein alter Kerl, der viel gelebt hat, sich viel bewegt hat in einem lan­gen Leben, der kann jetzt durch­aus mal ein biss­chen zurück­ste­cken, damit jetzt die Kin­der raus kön­nen. Wir Alten haben ein gutes Leben gelebt. Soli­da­ri­tät ist doch gera­de zu sagen: Ich ver­zich­te zuguns­ten von ande­ren. Gera­de wir Älte­ren sind doch – mehr­heit­lich – die Luxus­ge­ne­ra­ti­on, die es so gut hat­te, wie kei­ne Gene­ra­ti­on vor­her und kei­ne danach. Und wir sind jetzt von den wirt­schaft­li­chen Fol­gen der Kri­se zudem am wenigs­ten betrof­fen. Wir bekom­men unse­re Ren­te, unse­re Pen­si­on wei­ter, müs­sen kei­ne Kurz­ar­beit oder den Arbeits­platz­ver­lust fürch­ten, müs­sen kei­ne Kin­der ver­sor­gen und auch kei­ne Alten, weil wir sel­ber die Ältes­ten sind. Müs­sen aber von allen ande­ren geschützt wer­den. Das hat etwas Ungerechtes.

Vie­len Dank für das Gespräch.

Inter­view: Vol­ker Macke


Wie­der­ga­be mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Asphalt-Maga­zins.

Der Ori­gi­nal­ar­ti­kel kann hier als PDF her­un­ter­ge­la­den werden …

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5 Kommentare

  1. In wel­chem Auf­trag wird die­ser Bei­trag hier unkom­men­tiert ver­öf­fent­licht? Jeden­falls nicht in mei­nem. Anto­nia Schwarz, Spre­che­rin der Grü­nen Alten. Die Mehr­heit der heu­ti­gen Älte­ren emp­fin­det sich nicht als Luxusgeneration.

    1. Ich stim­me den Kri­tikpuk­ten von Anto­nia Schwarz weit­ge­hend zu.
      Mei­ne Alters­grup­pe hat den 2. Welt­krieg (1939−1945) noch als Sol­dat, Ver­wun­de­ter oder Gefan­ge­ner über­stan­den. 2 Brü­der wur­den getö­tet – sprich »sind gefal­len.« Ich selbst wur­de 2 x von der Mili­tär-Jus­tiz und Waf­fen- SS mit dem Tod bedroht.Der Auf­bau danach war auch kein Zucker lecken, aber dafür wur­de jedes Stück Land bebaut, um den Hun­ger zu stil­len.,. Doch wir woll­ten bren­nend etwas Sinn­vol­les für alle tun. Das habe ich als Lai­en­leh­rer, Stu­dent oder begeis­ter­ter For­scher ver­sucht, obwohl vie­le Vor­ge­setz­te nur den Nut­zen für ihre eige­ne Par­tei im Auge hatten..

    2. Wir sind kein Auf­trags­dienst. Hier wer­den Bei­trä­ge ver­öf­fent­licht, die für älte­re Men­schen von Inter­es­se sein könnten/sollten. Die­se Ver­öf­fent­li­chung ist eine Ein­la­dung zum kom­men­tie­ren. Es gab ja auf ande­ren Sei­ten har­sche Kom­men­ta­re, ohne dass der Ori­gi­nal­bei­trag in sei­ner Gän­ze zitiert war. Auch die Aus­sa­ge von Hans-Chris­ti­an Strö­be­le ist dazu von Inter­es­se und wird des­halb oben im Kom­men­tar referenziert.

    3. Ja die Art und Wei­se, wi sich Herr Strö­be­le in einem Bei­trag geäu­ßert hat fand ich eigent­lich sehr unplat­ziert und unse­ri­ös. Dazu noch mit einer Kla­ge zu dro­hen fand ich voll­kom­men über­heb­lich. Ich habe das im Fern­se­hen selbst gehört und war ehr­lich gesagt regel­recht empört über sei­ne Ein­stel­lung. Ich bin zwar auch Rent­ne­rin, habe kei­ne Enkel, aber den­noch sind sei­ne Äuße­run­gen sehr unqua­li­fi­ziert. Tut mir leid das sagen zu müs­sen, daß ich über sei­ne Ein­stel­lung zu den Beschrän­kun­gen sehr ent­täuscht, ja ent­setzt bin.

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